Der Krieg in der Ukraine ist medial und politisch präsent wie kaum ein anderer in den letzten Jahrzehnten. Dieser Krieg löst viele Ängste aus, bei allen. Die Bedrohung durch eine atomare Großmacht ist plötzlich zur Realität geworden. In Deutschland und in Europa. In den letzten beiden Wochen seit Beginn des Krieges erreichen den Verband zahlreiche Anrufe und E-Mails. Fast alle drehen sich um den Krieg und seine Folgen. Versuch einer Zusammenfassung.
Wie sag‘ ich es meinem Kind? Familien und der Krieg in der Ukraine
Viele binationale und migrantische Familien haben Familienangehörige in Kriegsgebieten. Berichte über Kriegshandlungen und Ängste um Angehörige sind für sie seit langem Teil ihres Alltags. Sie wundern sich, was ist jetzt so anders. Sie haben das Gefühl, dass ihre Sorgen und Nöte nicht im gleichen Maß gesehen wurden und werden. Weder in Kitas, noch in Schulen oder am Arbeitsplatz. Die Familien fragen sich: Wie können sie mit ihren Kindern über diesen Krieg sprechen und erklären, was so anders daran ist als bei der Tante in Afghanistan oder dem Großvater in Syrien?
Angesichts der rassistischen Vorfälle gegenüber Drittstaatsangehörigen an den EU-Grenzen fragen sich migrantische Familien: was würde mit uns passieren, müssten wir aus Deutschland fliehen? Sind wir dann auch Geflüchtete zweiter Klasse? Steht uns im Ernstfall der gleiche Schutz zu?
Ist Krieg nicht gleich Krieg?
Im Jahr 2001 beschloss der Rat der Europäischen Union die Massenzustrom-Richtlinie. Sie beinhaltet u.a. Mindestnormen für die Gewährung eines vorübergehenden Schutzes von Vertriebenen und einen Solidaritätsmechanismus, der zum einen die Finanzierung, zum anderen die tatsächliche Aufnahme in den Mitgliedstaaten regeln soll. Die europäischen Staaten waren sich angesichts des Krieges in der Ukraine schnell einig, diese Richtlinie anzuwenden.
Eine Frage, die sich Geflüchtete aus anderen Ländern stellen: „warum wurde die Massenzustrom-Richtlinie nicht auch 2015 / 2016 in Betracht gezogen?“
Gerade syrische, afghanische oder irakische Familien sind irritiert. Sie mussten aufwändige Asylanträge stellen, wurden in Massenunterkünften untergebracht. Die europäischen Regierungen waren und sind sich nach wie vor uneins über die Aufnahme und die Verteilung dieser Geflüchteten.
Die Meldungen über die Zurückweisungen von Geflüchteten an den Grenzen, die in der Ukraine als Studierende, Arbeitnehmer:innen oder aus Fluchtgründen lebten und die aus Afrika, Asien oder dem Nahen Osten kommen, geben den Familien darüber hinaus Anlass zur Sorge. Sie fragen sich: „Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Gibt es willkommene Geflüchtete und weniger willkommene? Ungeachtet der Menschenrechte?“
Die Deutsche Bahn bietet in einer PM von Ende Februar Menschen aus der Ukraine kostenlos Bahnfahrten nach Deutschland an. Allerdings nur für Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Warum nicht für alle Menschen, die gerade aus der Ukraine fliehen müssen?
Was ist mit uns Russ:innen?
Den Verband erreichen verzweifelte Anrufe von Russ:innen, die sich zurzeit in Deutschland aufhalten, z.B. mit Besuchsvisa oder in Kürze endendem Aufenthaltsrecht. Oder die zur Wehrpflicht herangezogen werden sollen.
„Ich hatte gerade eine junge russische Mutter am Telefon, die sich zu Besuch seit 2 Monaten in Deutschland befindet. Ihr Mann hat ein Visum zur Erwerbstätigkeit. Nach Rücksprache mit der Ausländerbehörde wurde ihr mitgeteilt, dass sie regulär ausreisen muss und das Kriegsgeschehen keine andere Betrachtung rechtfertigt,“ berichtet eine Beraterin.
Durch die Einstellung des Bankenverkehrs, können Angehörige kein Geld mehr nach Russland überweisen: “Ich weiß nicht mehr was ich machen soll. Meine 86-jährige Mutter lebt alleine in Moskau. Sie braucht für ihren Lebensunterhalt und ihre Medikamente meine finanzielle Unterstützung. Herholen kann ich sie auch nicht so einfach. Ich bin Deutsche, sie ist Russin.“
Putin hat nicht nur Befürworter:innen im Land. Tausende wurden bereits verhaftet und viele wollen das Land schnell verlassen. Wird für sie auch die Massenzustrom-Richtlinie gelten?
Noch gibt es anscheinend keine entsprechenden Anweisungen durch das Bundesinnenministerium bzw. die Innenministerien der Länder. Es fehlt noch an schnellen Regelungen für den Umgang mit russischen Staatsangehörigen.
Ankommen und was dann?
Schüler:innen aus der Ukraine soll schnellstmöglich ein Schulbesuch ermöglicht werden. Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans fordert ukrainischsprachigen Unterricht, damit die Kinder ihre Muttersprache nicht verlieren. Das ist sehr begrüßenswert. Aber nicht, wie er es begründet: damit sie keine Lücken haben, wenn sie wieder zurückkehren. Sprache ist ein wichtiger Teil der Identität, unabhängig vom Aufenthalt in einem Land. Vielleicht ist dies ein Anlass auch andere Sprachen im Bildungssystem stärker zu berücksichtigen: Arabisch, Farsi, Dari und andere. Auch die geflüchteten Kinder mit diesen Muttersprachen wollen ihre Identitäten nicht verlieren.
Gleicher als gleich?
Jeder Krieg ist grausam. Wir müssen uns mit allen Betroffenen von Krieg und Verfolgung solidarisch zeigen. Menschenrechte gelten für alle Menschen.
Deutschland kann zum Glück auf eine gewachsene Struktur der Hilfe bei Fluchtbewegungen zurückgreifen. Seit 2015/2016 gibt es viele neue untereinander vernetzte Organisationen. Es hat sich eine Willkommenskultur gebildet. Sie sollte weiterhin für Alle da sein und von der Politik entsprechend unterstützt werden.
Kontakt für Rückfragen und weitere Informationen:
Carmen Colinas, Öffentlichkeit & Kommunikation
Tel.: 069 713756-21
colinas@verband-binationaler.de