„Die telefonische Beratung von Paaren ist sehr anspruchsvoll: Ich muss vorsichtig sein, nicht zu sehr in die Tiefe zu gehen, um nicht etwas auszulösen, das ich über die Ferne nicht gut auffangen kann.“
Interview mit der Paar- und Familientherapeutin Sibylle Dorsch
Sibylle Dorsch ist interkulturelle Paar- und Familientherapeutin beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften in München |
Das Interview führte Dr. Sophie Elixhauser, zuständig für Qualitätssicherung, von der Geschäftsstelle München am 7. Mai 2020
Was sind deine Aufgaben hier in der Beratungs- und Geschäftsstelle München unseres Verbandes?
Ich bin Paar- und Familientherapeutin und ich mache überwiegend Paarberatungen mit bikulturellen bzw. interkulturellen Paaren. Im Zentrum stehen Partnerschaftsfragen, gelegentlich werden auch die Kinder mit einbezogen.
Wie wirkten sich die Ausgangsbeschränkungen der letzten Wochen auf deinen Arbeitsbereich aus?
Die Beratungen finden seit Wochen aus dem Homeoffice statt – per Telefon, E-Mail oder Video. Die telefonische Beratung von Einzelpersonen funktioniert meist problemlos. Anspruchsvoller ist die telefonische Beratung von Paaren, denn hier fehlt uns der Zugang zur nonverbalen Kommunikation: Wir sehen nicht, wie eine Partnerin bzw. ein Partner auf den bzw. die andere reagiert, Gestik, Mimik und Körperhaltung bleiben verborgen. Wegen der fehlenden Kinderbetreuung sind auch oft Kinder anwesend. Gepaart mit einer beengten Wohnsituation und fehlendem Rückzugsraum der Eltern ist die Beratungssituation immens erschwert.
Dies hat zur Folge, dass ich in den Beratungen vorsichtig sein muss, nicht zu sehr in die Tiefe zu gehen, um nicht etwas auszulösen, das ich über die Ferne nicht gut auffangen kann. Die Beratungen aus dem Homeoffice sind daher eher stützend und deeskalierend angelegt. Sie haben das Ziel, das Paar bzw. die Familie ohne zusätzliche Eskalationen durch die Corona-Krise zu begleiten.
„Bei Kindeswohlgefährdung ist es im Einzelfall auch möglich, dass ein Kind die Notbetreuung in Anspruch nimmt. Das muss dann vom Jugendamt veranlasst werden.“
Was sind die aktuellen Herausforderungen und Nöte der ratsuchenden Paare und Familien?
Am schwierigsten ist die Situation derzeit für Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, im Homeoffice arbeiten und gleichzeitig noch die Kinder betreuen müssen. Da sind viele Betroffene mit der Kraft am Ende. Durch das Kontaktverbot fallen Möglichkeiten zur Entlastung, z.B. durch die Großeltern, weg. Und die Notbetreuung gilt nur für die sogenannten systemrelevanten Berufe. Immerhin wurde diese kürzlich z.B. um Alleinerziehende erweitert. Bei Kindeswohlgefährdung ist es im Einzelfall möglich, dass ein Kind die Notbetreuung in Anspruch nimmt. So einen Fall hatte ich hier auch. Das muss dann vom Jugendamt veranlasst werden.
Bei Familien, in denen ein Elternteil schon längere Zeit arbeitssuchend ist, beobachte ich hingegen eine gewisse Entlastung. Die Paare sind froh, dass der arbeitssuchende Elternteil sich in Ruhe um die Kinder kümmern kann, während die Partnerin bzw. der Partner arbeitet. Dies hat zuweilen eine Intensivierung der Beziehung zu den Kindern zur Folge. Durch COVID-19 wird die Arbeitslosigkeit oft auch weniger als eigenes Versagen erlebt. Eltern, die z.B. im Pflegebereich arbeiten, sind natürlich besonders hohen Belastungen ausgesetzt. Gerade ist ein hoher Arbeitseinsatz nötig, zuweilen mit einer gewissen Gefährdung – auch für die Familie zu Hause.
Beim Homeschooling beobachte ich eine Überforderung der Eltern durch alle Bildungsschichten hindurch, auch wenn sich Eltern mit höherem Bildungsstand leichter tun. Form, Intensität und Qualität des Unterrichts zuhause sind sehr unterschiedlich: Manche Lehrerinnen bzw. Lehrer schicken nur Arbeitsblätter, andere unterstützen persönlich per Telefon, wenn Kinder Probleme haben. Eltern mit Migrationshintergrund haben es hier meist deutlich schwerer, gerade bei der Unterstützung der Kinder im Fach Deutsch.
„Wir können seit den Lockerungen nun vereinzelt wieder Face-to-Face-Beratung machen. Die Ratsuchenden sind sehr froh, wieder persönlich zu uns kommen zu können.“
Für viele interkulturelle Familien ist es problematisch, dass sie aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht nach Hause fahren können. Familientreffen zu wichtigen Feiertagen fallen weg. Das war gerade an Ostern ganz schwierig für manche Ratsuchende. Aktuell betrifft es das gemeinsame Fastenbrechen im Ramadan. Noch schlimmer ist es, wenn es im Heimatland in der Familie einen Krankheits- oder Todesfall gibt. Ich hatte ein Paar in der Beratung, das davon betroffen war. Es war sehr belastend für die Frau, dass sie ihre in Frankreich lebende Tante in den letzten Stunden nicht begleiten konnte. Ein anderes bikulturelles Paar wiederum stellte fest, dass der Kontakt nach Hause und der Zusammenhalt innerhalb der Familie in dieser schwierigen Lage enger geworden sei.
Oft ist auch die finanzielle Unterstützung der Familien im Heimatland ein Thema. Aufgrund der Corona-Krise ist in vielen Familien derzeit das Geld knapp, so dass sie ihre Familien aus wirtschaftlicher Not oder auch wegen organisatorischer Probleme nicht unterstützen können. Dies wird als große Belastung wahrgenommen.
„Die Umsetzung der Abstandsregel bereitet uns gerade bei der Paarberatung Schwierigkeiten. Wir haben hierfür nicht die passenden Räumlichkeiten, weswegen ich vielen Anfragen leider nicht nachkommen kann.“
Nun gibt es ja eine langsame Öffnung des Lockdowns – was bedeutet das für deine Arbeit?
Wir können nun vereinzelt wieder Face-to-Face-Beratung machen. Gestern hatte ich bereits die ersten beiden Gespräche. Die Ratsuchenden sind sehr froh, wieder persönlich zu uns kommen zu können, manche Paare warten schon sehr auf einen Termin. Zum Glück stehen uns genügend Masken und Desinfektionsmittel zur Verfügung.
Die Umsetzung der Abstandsregel von mindestens 1,5 Meter bereitet uns jedoch Schwierigkeiten: Mein Beratungsraum ist klein und ich kann unter diesen Bedingungen nur Einzelpersonen beraten. Für ein Paar, die Co-Beratung mit Kollegen und gegebenenfalls auch einen Dolmetscher ist nicht ausreichend Platz vorhanden. Da wir in der Beratungsstelle nur einen Raum haben, der groß genug ist, ist im Team gerade viel Koordination gefragt. Leider kann ich vielen Anfragen aus diesem Grund nicht nachkommen. Ich hoffe sehr, dass sich die Situation bald weiter in Richtung Normalität entwickelt.